Eines der erstaunlichsten Sachbücher, die mir in letzter Zeit in die Hände fielen, ist ohne jeden Zweifel “Tore zur Unterwelt” von Dr. Heinrich und Ingrid Kusch, zwei bekannten und renommierten Prähistorikern und Höhlenforschern. Selbst wenn man sich wie ich schon lange mit Vorgeschichte, Heidentum und Megalithkultur beschäftigt und selbst Plätze dieser Art besucht hat, dann begeht man mit der Zeit den Fehler, sich ein paar wenige Standpunkte und Theorien zurechtzulegen, die man nur noch selten hinterfragt. Und in der Tat erscheinen Jahr für Jahr neue Bücher zu diesen oder ähnlichen Themen, die - insbesondere im esoterischen Bereich - kaum etwas Neues bringen, sondern immer nur den Schnee von vorgestern publikumsgerecht neu aufbereiten. Dr. Heinrich und Ingrid Kusch ist es - offenbar als Ergebnis einer langjährigen praktischen Forschungstätigkeit und durch ihren unverkennbaren Enthusiasmus - dagegen gelungen, zu Erkenntnissen zu gelangen, die nicht nur abenteuerlich und unglaublich erscheinen, sondern auch noch dazu geeignet sind, vieles in Frage zu stellen, was wir bisher über die europäische (vielleicht sogar globale) Vorgeschichte zu wissen glaubten.
Das Buch beginnt wie ein regionalkundliches Werk, das sich mit den sogenannten “Erdställen” in der österreichischen Steiermark befaßt. Diese Erdställe, künstlich angelegte unterirdische Gänge und Kammern, die meistens schon nach kurzer Distanz blind enden, sind vom sprachlichen Verständnis her keine Tierställe, sondern Stellen unter der Erde. Die meisten Forscher waren wohl bisher der Meinung, daß Erdställe im Mittelalter angelegt wurden, doch war ihr Alter immer umstritten, von ihrem Zweck ganz zu schweigen. Bis zum heutigen Tag ist es schwierig sich vorzustellen, warum man diese Gänge überhaupt angelegt hat, denn - von wenigen Keramikresten abgesehen, die mehr im Sinne einer Müllentsorgung dorthin gelangten - sind die Erdställe fundfrei und ihre geringe Höhe (kaum über 1,60 m) und Ausdehnung lassen sie auch als Schutz-, Flucht- oder gar Wohnorte ungeeignet erscheinen. Obwohl man diese unterirdischen Anlagen in vielen Teilen Europas gleichermaßen findet, hat sich die allzusehr auf archäologische Funde spezialisierte Wissenschaft bisher nur wenig mit ihnen befaßt. Viele Erdställe sind heute nicht mehr begehbar oder nur noch wenigen ortskundigen alten Leuten bekannt.
Das Forscherpaar Kusch untersuchte diese merkwürdigen Kammern im Gebiet um die oststeirische Gemeinde Vorau und im Zusammenhang mit den Recherchen vor Ort geschieht nun etwas, daß man in einem Abenteuerroman noch für angemessen halten würde, aber heute und hier in unserer doch scheinbar so wenig geheimnisvollen Neuzeit mit erheblicher Faszination zur Kenntnis nimmt. Denn bei Umbauten im Dachstuhl eines Bauernhofs der Gegend findet man eine alte Kanonenkugel. In diesem Hohlgeschoß befindet sich ein handgezeichneter Plan, der auf ein ausgedehntes Labyrinth unterirdischer Gänge unterhalb von Vorau und seiner gesamten Umgebung verweist! Die Skizze gelangt in die Hände der mittlerweile in der Gegend bekannten Forscher, die den Hinweisen nachgehen und Spektakuläres aufdecken. Denn tatsächlich scheint direkt unter dem Augustiner-Stift Vorau ein ausgedehntes Gangsystem zu existieren und mit Gangsystem sind nicht ein paar wenige Geheimgänge und Grabkammern gemeint, die man im Mittelalter auch an anderen Orten häufiger findet. Nein, hier ist die Rede von einem offenbar uralten, viele Kilometer langen, verzweigten Netzwerk von Gängen, die teilweise Täler unterlaufen, weit in Berge hinein getrieben wurden oder hinab in unbekannte Tiefen führen, ohne daß man das Ende kennen würde! Recherchen in Bibliotheken, Befragungen von Einheimischen, Geländebegehungen, Forschungs- und Vermessungsfahrten und viele weitere Untersuchungen führen die Forscher zu der Vermutung, es hier nicht nur mit einem eng begrenzten Phänomen der Gemeinde Vorau zu tun zu haben, sondern mit einem Gebiet, das die gesamte Oststeiermark und Teile der südlichen Weststeiermark umfaßt und in engem Zusammenhang mit den bisher untersuchten Erdställen steht. Die geheimnisvolle Skizze, die im Buch abgebildet ist, soll eine Kopie eines älteren mittelalterlichen Originals sein, wobei nicht so richtig schlüssig wird, wie die Autoren zu dieser Auffassung kommen. Die Abbildung im Buch zeigt eine eher neuzeitliche Bleistiftzeichnung, die mit Notizen in einem modernen Schriftstil versehen ist.
Die geschilderten Forschungsergebnisse sind so spannend, daß es fast unmöglich erscheint, das Buch vor der letzten gelesenen Seite aus der Hand zu legen. In meinen Augen sehr überzeugend weisen die Autoren argumentativ nach, daß dieses Gangsystem erheblich älter als Neuzeit und Mittelalter ist, ja unter Umständen bis in (oder sogar vor?) die Zeit der Megalithkultur vor ca. 6000 Jahren datiert werden muß. In einem weiteren umfangreichen Kapitel wird deutlich, daß die Verbindung zur Megalithkultur und ihren vielen steinernen Zeugen kein zufälliger ist. Denn offenbar dienten die zu Hunderten, vielleicht sogar zu Tausenden in der Landschaft aufgestellten Menhire, insbesondere aber die sogenannten Lochsteine dazu, Verlauf und Zugänge des unterirdischen Gangsystems zu markieren. In diesem Zusammenhang von einem “österreichischen Stonehenge” zu sprechen ist keineswegs zu weit hergeholt, war doch Stonehenge selbst nur einer von vielen Orten des alten megalithischen Europas, das offenbar von einer sehr hochstehenden, mathematisch, astronomisch und ingenieurstechnisch gebildeten Kultur geprägt war. Die im Buch abgebildeten Fotos von alten vergessenen Menhiren, beispielsweise am Masenberg, sind in dieser Hinsicht sehr aufschlußreich, wenn nicht sogar spektakulär. Die Autoren deuten an, daß es unter Umständen möglich ist, daß die unterirdischen Anlagen noch älter sind und auch von den Menschen des Neolithikums nur übernommen wurden. Die außergewöhnlich perfekte Bearbeitung des Gesteins und die überhaupt unglaubliche Arbeitsleistung, die erforderlich war, um die teilweise tief hinabreichenden Gänge in harten Fels zu treiben, geben Rätsel auf, an die sich auch die Autoren vorerst nicht herantrauen und wo auf weitergehende Spekulationen bewußt verzichtet wird. Klar wird jedoch, daß die Gänge nichts mit herkömmlichem Bergbau zu tun hatten. Doch von wem und zu welchem Zweck wurden sie angelegt? Aufgrund der geringen Ausmaße der Gänge denkt man unwillkürlich an die Zwerge der in ganz Europa verbreiteten Mythen und Märchen, was die Autoren zum Anlaß nehmen, auch regional bekanntes Sagengut für ihre Recherchen mit heranzuziehen. Wenn man bedenkt, daß Europa alle zehntausend Jahre von einer Eiszeit heimgesucht wird, die mit einer weitgehenden Vergletscherung der Gebirgslandschaften einhergeht, wären klimatische Gründe für ein derart aufwendiges Projekt, das zumindest mit herkömmlichen Werkzeugen viele Hundert Jahre gedauert haben muß, denkbar. Andererseits sind die Gänge schmal und niedrig, es scheint kaum Kammern zu geben, von größeren zum Wohnen und Überleben geeigneten Räumen ganz zu schweigen. Auch existieren keine Funde, die eine wie auch immer geartete Nutzung der Gänge belegen könnten. Haben wir es mit einem unvollendeten Projekt zu tun? Oder führen die Gänge in einst bewohnbare unterirdische Reiche, von denen wir nicht die geringste Ahnung haben? Die Erforschung der Anlagen ist jedoch heute außerordentlich schwierig, da viele Zugänge nicht mehr existieren, Gänge verschüttet wurden oder sich auf natürliche Weise mit Schlamm und Sedimenten füllten. Leider geben die Autoren keine Hinweise, mit welchen Methoden sie solche verschlossenen Gänge noch bis in 70 m Tiefe aufspüren. Hier hätte man sich als nicht fachkundiger Leser ein paar nähere Informationen zur Erläuterung des Vorgehens und der wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten gewünscht.
Ein weiteres Rätsel der unterirdischen Gangsysteme besteht darin, daß viele Zugänge in einer unbekannten, vermutlich im Mittelalter liegenden Zeitepoche absichtlich und mit gewaltigem Arbeitsaufwand verschlossen wurden. Dabei mauerte man die Einstiege nicht einfach nur zu, sondern verschloß die Gänge teilweise mit vielen Tonnen Gestein und Erde. Wollte man das Wissen um eine unbekannte vorchristliche Kultur ein für allemal aus dem Bewußtsein der Menschen löschen? Oder fürchtete man sich gar vor etwas aus den Tiefen der Erde? Irgendetwas muß damals passiert sein, denn sonst hätte man sich diese Arbeit wohl kaum gemacht. In diesem Zusammenhang muß man erneut das zerstörerische Werk des Christentums beklagen, das mit fanatischem Eifer alle Zeugnisse vorangegangener Kulturen zu tilgen trachtete. In späteren Zeiten kamen sogenannte Flurbereinigungen dazu und schon des öfteren habe ich selbst - beispielsweise in Mecklenburg oder Schweden - an Plätzen gestanden, wo man aus landwirtschaftlichen oder landschaftsordnenden Gründen alte Steindenkmale, Kultplätze, Menhire und Gräber einfach bedenkenlos zerstörte und beiseite räumte. Die Autoren führen von ihrer Seite ebenfalls reichlich Beispiele für diese gefühllose Ignoranz gegenüber unserer eigenen Urgeschichte an. Der bedauerliche und in den Schulen nach wie vor weiter vermittelte Irrtum, daß man erst mit dem Auftauchen des Christentums in Europa überhaupt von Geschichte sprechen kann (und vorher nur die Primitiven, Barbaren, Kulturlosen usw. hausten) führt leider immer noch dazu, unsere ureigenen Wurzeln gering zu schätzen und die sich mittlerweile häufenden Hinweise auf eine uralte europäische Hochkultur, die vielleicht sogar alle anderen bekannten Hochkulturen der Menschheit beeinflußte und prägte, zu mißachten.
Die Autoren vermitteln im vorliegenden Buch nach eigener Aussage lediglich ihren aktuellen Arbeitsstand zum Zeitpunkt April 2009. Für ein quasi unfertiges Arbeitsbuch schien mir anfangs ein großformatiger Farbbildband auf Hochglanzpapier nicht die geeignete Form zu sein. Ich mußte jedoch feststellen, daß die vielen, ganz ausgezeichneten Fotos wesentlich und unabdingbar für das Verständnis des Themas sind. Der sowieso erstaunte Leser wird durch die hervorragende Anschaulichkeit auf die Forschungsreise(n) der Autoren mitgenommen und kann sich im wortwörtlichen Sinn “ein Bild machen”, das nicht nur sein Denken, sondern vor allem auch seine Emotionen und Sinne mit einbezieht. So begleitet man die Forscher in alte Gewölbekeller, wo sich noch immer Zugänge und Einstiege in die unterirdischen Gänge befinden, begutachtet die übriggebliebenen Lochsteine auf Gehöften der Steiermark oder findet vergessene und halbüberwachsene Menhire und behauene Steine in den Bergwäldern. All das ist fantastisch genug und so bleiben die Autoren in ihren Darstellungen und Berichten bewußt sehr sachlich und fachbezogen. Die vielen sich aufdrängenden Fragen können wohl zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch noch gar nicht sinnvoll beantwortet werden. Die aktuellen Forschungsergebnisse sind jedoch jetzt schon so aufregend, daß man sich hier und da gewünscht hätte, etwas mehr über die eigenen Gedankengänge und Spekulationen des Forscherpaares zu erfahren. Als einzige Schwäche des prächtigen Bildbandes sind die eigenartigen computererstellten Farbgrafiken zu nennen, in denen teilweise sogar Informationen fehlen (Abb. 10) und die nicht geeignet sind, zum Verständnis des Themas etwas beizutragen. Hier hätten klassische Zeichnungen und Schemata für mehr Klarheit und Informationsfülle gesorgt. Für die sicher große Mehrheit der regional unkundigen Leserschaft wären sicher einige Karten und geografische Übersichten von Vorteil gewesen. Auf diesen Karten hätte man gut den Verlauf der Gänge und ihre Beziehungen zu Kirchen, Gehöften, Menhiren, bedeutsamen Landschaftsteilen usw. darstellen können. Wie man am “Stubenberg” sehen kann, ist es zudem eine Anregung wert, sich einmal die alten Flurnamen und Ortsbezeichnungen des in Frage kommenden Gebiets näher anzuschauen. Sicher könnte man so noch einige zusätzliche Hinweise entdecken und weiter verfolgen.
Davon abgesehen muß ich zum Schluß noch einmal hervorheben, was für eine faszinierende und erstaunliche Lektüre das Buch “Tore zur Unterwelt” dem interessierten Leser bietet. Die Erkenntnisse, die hier im wahrsten Sinne des Wortes zu Tage gefördert wurden, kann man ohne Übertreibung als dazu geeignet ansehen, gängige und allzu gefällige Klischees im Hinblick auf unsere eigene Geschichte erneut zu hinterfragen, ja herkömmliche Vorstellungen regelrecht zu erschüttern. Auf jeden Fall darf man auf die Arbeit und weitere Entdeckungen von Dr. Heinrich und Ingrid Kusch mehr als gespannt sein. Wer einmal über dieses Thema etwas gelesen und die Fotos gesehen hat, wird sich freuen, weiter von den Reisen in die Tiefen der Erde und in die Tiefen unserer eigenen Geschichte zu erfahren.
Und das in Österreich in den steyerischen Gefilden.
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